Wir — die Stadtteilinitiative WEM GEHÖRT KREUZBERG — möchten gerne die Karte der Verdrängungsprozesse für "61" aktualisieren: viele Mietshäuser haben nicht nur die Abgeschlossenheitserklärung, sondern sind mittlerweile in Eigentumswohnungen umgewandelt. Kündigungen wegen 'Eigenbedarf' haben Hochkonjunktur. Ferienwohnungen in lukratives möbliertes, zeitlich befristetes Wohnen übertragen. Kleingewerbetreibende verdrängt...
Schaut doch mal in der Karte nach, ob in euren Häusern Daten aktualisiert werden sollten oder ob euer Haus überhaupt schon auf der Karte ist.
Mietenvolksentscheid Berlin: Eine bewegungspolitische Tragik-Komödie in vier Akten?

Prolog:

Dieses Papier bewertet den Mietenvolksentscheid aus aktivistischer Sicht von Kreuzberger*innen, die sich im Rahmen der Initiative auf der Straße engagiert haben. Wir haben im Mietenvolksentscheid ein Instrument gesehen, das es ermöglicht, den langfristigen Organisierungsprozess von Berliner Mieter*innen voranzutreiben. Wir haben im April und Mai Unterschriften gesammelt, waren am Aktiventreffen beteiligt und haben uns in vielfältiger Weise für den Mietenvolksentscheid stark gemacht. Wir gehören nicht dem Ko-Kreis[1] an, zu dem die Vertrauensleute, der Pressesprecher und einige Experten*innen in Sachen Mietenangelegenheiten gehören.

1. Akt — Euphorie

Der Anfang des Mietenvolksentscheid geht auf die Euphorie des gewonnenen Referendums über das Tempelhofer Feld zurück. Die Kampagne von THF 100 hat auch uns beflügelt. In Berlin gibt es eine vielfältige Mieter*innenbewegung. Es ist aber bis jetzt nur partiell gelungen, diese stadtweit zu bündeln. Das Instrument des Mietenvolksentscheid erschien daher als eine Option, die Vernetzung von bestehenden Initiativen über die Kiezgrenzen hinweg voranzutreiben und neue Menschen in Mietenkämpfe einzubinden. Gleichzeitig gab es Initiativen, wie Kotti und Ko, die für ihr Klientel ein Gesetz ausarbeiten wollten, ein Entwurf, der möglichst auch zum Gesetz und damit zu realen Verbesserungen für sozial schwache Mieter*innen rund ums Kottbusser Tor führen sollte.
Der Mietenvolksentscheid hatte somit von Beginn an zwei Stoßrichtungen. Über die Kampagne, das Unterschriftensammeln, sollten Berliner*innen mobilisiert werden und über das Gesetzesvorhaben sollte die Situation der sozial schwachen Mieter*innen im sozialen Wohnungsbau zum Thema gemacht und realpolitische Ziele verfolgt werden. In der ersten Stufe sammelten viele Berliner*innen innerhalb von sieben Wochen fast 50.000 Unterschriften für das Gesetz zur Neuordnung der sozialen Wohnraumversorgung.


2. Akt — Im Hinterzimmer mit der SPD

Die Unterschriftensammler*innen taten das im Glauben, dass das Gesetz gut ausgearbeitet wäre und insbesondere die im MVE engagierten mietenpolitischen Experten*innen von Kotti & Ko und der Partei DIE LINKE eine solide Arbeit gemacht hätten. Auch wir schenkten den Experten*innen zunächst unser Vertrauen, obgleich wir skeptisch waren, ob ein komplexes 50-seitiges Artikelgesetz[2] aus bewegungspolitischer Sicht ein sinnvolles Instrument sei. Dennoch wollten wir das Experiment wagen, da gleichzeitig verabredet wurde, einen wesentlichen Schwerpunkt auf die politische Kampagne zu legen und das Thema steigende Mieten auf die Abgeordnetenwahl 2016 zuzuspitzen. Die Gefahr, dieses Thema im Wahlkampf gegen sich zu haben, haben die Sozialdemokraten*innen sofort erkannt. Dementsprechend begann nach der Einreichung der knapp 50.000 Unterschriften ein intensives Buhlen von Staatssekretären, Parteivorsitzenden und anderen Spitzenfunktionären, all jenen also, die z.B. Kotti&Ko und anderen Initiativen jahrelang nicht zuhörten und die kalte Schulter zeigten. Zugleich wurde eine Drohkulisse aufgebaut. Der regierende Oberbürgermeister Müller forderte die Einschränkung der direkten Demokratie. Unser Gesetz wurde als zu teuer — und damit nicht machbar — dargestellt.

Das mit den Parteien, bzw. mit dem Senat Gespräche geführt werden würde war klar, allerdings gab es aus unserer Sicht nichts zu verhandeln. Dennoch muss die Stimmung im Hinterzimmer so kuschelig gewesen sein, dass die Männer aus dem Ko-Kreis und die Männer der SPD sich schnell einig wurden. Was genau geschah, kennen wir auch nur aus den Presseberichten, was bei den Gesprächen im Detail besprochen wurde, wurde nie transparent gemacht. Das alles geschah, ohne dieses Vorgehen mit dem Aktiventreffen – und damit mit der Basis – abzustimmen. Anders formuliert: es gab für die Verhandlungen und die ›Einigung‹ kein Mandat. Daher wurde das Ergebnis nach außen hin bis heute auch nie so dargestellt, wenngleich eine informelle Abstimmung zwischen dem Ko-Kreis und der SPD kaum zu leugnen ist[3]. Die Akteure, die mit der SPD verhandelt haben, haben klar ihre Kompetenzen überschritten und sich damit gegenüber den vielen Aktivisten*innen nicht korrekt verhalten.

3. Akt — Elend des Experten*innentums

Da es innerhalb des Aktiventreffens sehr große Vorbehalte gegen die Einigung mit der SPD gab, begannen die Verhandlungsführer*innen das eigene Gesetz für tot zu erklären. Sie machten sich dabei die Argumentation der SPD und des Senats zu eigen, die behaupteten, unser Gesetz sei nicht zulässig, da es gegen EU-Recht verstoßen würde. Es wurde auf dem Aktiventreffen behauptet, man könne nichts machen, nur noch mit der SPD verhandeln und hoffen, dass im November im Abgeordnetenhaus ein gutes Ergebnis rauskomme. Dazu sollte man den Experten*innen freie Hand lassen und nicht mehr in der Öffentlichkeit die Prüfung des eigenen Gesetzes durch die Senatsinneverwaltung verlangen. Das Aktiventreffen lehnte das ab und sprach sich für eine Presseerklärung aus, in der gefordert werden sollte, die Prüfung abzuschließen. Erst nach vier Wochen Verhandlung zwischen dem Ko-Kreis und der Basis des Aktiventreffen ging eine ernstzunehmende Pressemitteilung raus. Bereits vorher wurde auf der Titelseite der Berliner Zeitung das Ende des Mietenvolksentscheids erklärt. Der Pressesprecher aus dem Ko-Kreis meinte darauf lapidar, dass er die zuständige Redakteurin nicht erreicht hätte, von einer Gegendarstellung sah er ab. Die Meldung wurde so hinggenommen.

4. Akt — Bewegungslosigkeit und Fachsimpelei

Der Mietenvolksentscheid war fortan in der Experten*innenfalle gefangen. Dem eigenen rund 50-seitigen Entwurf lagen nun — unbekannte[4] — Gesprächsprotokolle und schließlich ein ebenfalls über 50 Seiten umfassender Gesetzentwurf des Senats vor. Die Experten*innen forderten nun, dass diese Papiere innerhalb von wenigen Tagen bewertet und besprochen werden sollten. Sie begannen sogenannte Synopsen zu schreiben, komplizierte Exceltabellen, mit Stichworten, die niemand, der sich nicht mindestens 20 Stunden die Woche mit der Materie befasst, verstehen konnte. Diese Strategie führte zur Bewegungslosigkeit innerhalb des Aktiventreffens. Versuche von uns und anderen Aktiven, die politische Initiative zurückzugewinnen[5] wurden von Seiten der Experten*innen sabotiert. Gleichzeitig — und das ist sehr wichtig zu sagen — gelang es uns nicht, gegen die expertokratischen Züge im MVE für eine politische Position eine Mehrheit zu organisieren. Der Ko-Kreis, hauptsächlich bestehend aus Kotti & Ko, der Partei DIE LINKE und der Interventionistischen Linken, entpuppte sich als die stärkere Struktur und ließ nicht zu, die bewegungspolitische Initiative wieder in den Blick zu nehmen. Das bewegungspolitische Moment flachte immer stärker ab und immer mehr blieben dem Aktiventreffen fern.

Für einen Teil der Experten*innen ist das nicht schlimm. Sie haben teilweise eine andere Perspektive auf die Materie. Diskussion und Verhandlung mit der etablierten Politik ist für sie wichtiger, als auf die bewegungspolitische Komponente zu achten. Ein Teil betrachtet die bewegungspolitische Komponente, Aktivisten*innen, als Basis, die man — ganz wie in einer Partei — mal befragt und mal links liegen lässt. Dementsprechend taktisch und funktional wurde mit uns kommuniziert. Die Experten*innen sind inzwischen einen Schritt weiter. Sie peilen die Sitze im Fachbeirat in der AÖR, die im Zuge der SPD Reform gegründet wird, an. Ein starkes Aktiventreffen und eine Mieterbewegung stört da nur, wenn es darum geht, Posten abzugreifen. Derweil wird in der Öffentlichkeit der eigene Diletantismus schöngeredet. Man spricht davon unglaublich viel erreicht zu haben. Wovon man lieber nicht spricht, ist die eigene Verantwortung, die politische Kampagne und die Mobilisierung durch das eigene Verhalten ausgebremst zu haben.

Eine Tragödie? Eine Komödie?

Jein! Es ist nicht das erste Mal, dass eine Bewegung fulminant beginnt und dann von den etablierten politischen Kräften außer Kraft gesetzt wird. Uns ist klar, dass es innerhalb eines Bündnisses immer verschiedene Interessen gibt. Und allein durch die Präsenz von Mitgliedern der Partei DIE LINKE war von vorne herein klar, dass es auch andere Politikstile innerhalb des Bündnisses gab.

Die Tragik ist, dass die Option eines aktivistischen Eingreifens in den Wahlkampf im kommenden Jahr verloren gegangen ist und es uns nicht gelang, gegen die Expertokratie ein wirksames Mittel der politischen Kontrolle durch das Aktiventreffen zu finden. Durch das Verhalten der Experten*innen und unserem Scheitern, dagegen eine Mehrheit zu organisieren, ist die Option, im Januar mit einer zweiten Phase zu beginnen gestorben. Der Ko-Kreis glaubt zwar, dass man mit einem zweiten Gesetz im Frühjahr wieder eingreifen könnte. Das wird unseres Erachtens jedoch nicht so einfach werden, da die Basis des Mietenvolksentscheids, die vielen Menschen, die wochenlang Unterschriften gesammelt haben, demobilisiert sind. Ob sich diese wieder mobilisieren lassen ist aus unserer Sicht momentan mehr als fraglich: wer will denn Unterschriften sammeln für ein Gesetz, dessen Autoren*innen kein Problem damit haben es ein halbes Jahr später für tot zu erklären und dann mit der SPD in die Kiste springen? Ohne eine Aufarbeitung der Ereignisse rund um die Einigung der SPD, konkrete Überlegungen, in welchem Verhältnis die Experten*innen zu den Aktiven stehen und wie man Tendenzen des Funktionärswesen eindämmt, wird es nicht möglich sein, die Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

Unsere Lehren aus bewegungspolitischer Perspektive heißen vorläufig:

Experten*innen:
Sind notwendig, wir benötigen allerdings eine klare Positionierung von Experten*innen. Es kann nicht so weit gehen, dass Experten*innen schließlich die ganze Szenerie dominieren. Vielmehr müssen sie unterstützend und ermöglichend tätig sein, sich an Beschlüsse aus dem Aktiventreffen halten. Sie müssen sich v.a. selbst als Basis verstehen und nicht als Funktionäre.

Ko-Kreis / Aktiventreffen:
Es muss verhindert werden, dass sich Inner Circle bilden, die beginnen zur eigentlichen Macht- und Entscheidungszentrale zu werden. In zukünftigen Modellen muss die Ausgestaltung des Koordinierungskreises überdacht werden.

Gesetz:
Wenn man sich auf das Verabschieden eines Gesetzes einlässt, sollte aus aktivistischer Sicht darauf geachtet werden, dass es ein einfaches Gesetz ist, ein Gesetz, das aus wenigen Artikeln besteht, eines das einfach zu verstehen ist. Ein Gesetz, dass nicht von den eigenen Verfasser*innen zwei Monate später für tot erklärt werden kann.

Bewegung:
Es muss deutlich sein, dass man sich in einer Volksentscheids-Initiative auch dann als volles Mitglied engagieren kann, wenn man nicht 20 h in der Woche sich mit dem Thema — im vorliegenden Fall Sozailmieter/sozialer Wohnungsbau — beschäftigt. Nur dann gibt es die Option auf eine breite Basis.

Kiezgruppe Friedrichshain-Kreuzberg


[1]    Ko-Kreis = Koordinierungskreis. Die Initiative Mietenvolksentscheid bestand aus dem Ko-Kreis und dem Aktiventreffen. Das Entscheidungsgremium sollte das Aktiventreffen sein.

[2]    Das Gesetz ist einsehbar unter: https://mietenvolksentscheidberlin.de/worum-gehts/das-gesetz/

[3]    So wurde es uns hinter vorgehaltener Hand gesagt. Es soll einen ganz klaren Zeitpunkt gegeben haben, bei dem die Verhandlungsführer des Ko-Kreises und die SPD sich entscheiden haben, es intern Verhandlungen zu nennen.

[4]    Die Verhandlungen zwischen Ko-Kreis und Senat wurden geheim geführt und bis heute nicht öffentlich gemacht.

[5]    Bereits im August machten wir den Vorschlag, das Gesetz politisch und nicht fachlich zu bewerten und in der Öffentlichkeit – und nicht auf Parlamentsfluren und in Ausschusssitzungen — unsere politischen Ziele zu erklären. Unser Vorschlag zirkulierte als sogenanntes Kreuzberger Papier in den einschlägigen Verteilern.