„Erst das Essen, dann die Miete!“ Protest und Selbsthilfe in Berliner Arbeitervierteln während der Großen Depression 1931 bis 1933
Buchvorstellung
von Simon Lengemann
Die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 wird primär assoziiert mit Massenarbeitslosigkeit, autoritären Präsidialkabinetten und schließlich der nationalsozialistischen Machtübernahme. Aus Sicht einer ‚Geschichte von unten‘ bleibt dabei ein entscheidender Faktor der Krise im privaten Reproduktionsbereich unterrepräsentiert: die Verelendung namentlich der städtischen Bevölkerung durch ihren Status als Mieterinnen und Mieter.
Kürzungen bei Löhnen und Sozialleistungen standen mit der 4. Notverordnung vom Herbst 1931 für die meisten Altbaumieter Mehrbelastungen durch die Miete gegenüber. Der kriegsbedingte Mangel an Wohnraum bestand im günstigsten Marktsegment der Großstädte fort, weshalb diese weiterhin der aus zwangswirtschaftlichen Elementen hervorgegangenen ‚gesetzlichen Miete‘ unterlagen. Unter den Vorzeichen der Austeritätspolitik wurde diese Schutzmaßnahme zu einem stumpfen Schwert, selbst die existenziellen Grundbedürfnisse Essen und Wohnung überforderten Geringverdienende finanziell. Sie waren somit gezwungen, sich zwischen dauerhafter Unterernährung und anwachsenden Mietrückständen — die letztlich zum Wohnungsverlust führen mussten — zu entscheiden.
Die Zahl der ganzjährig in den Laubenkolonien der Berliner Peripherie Vegetierenden verdreifachte sich während der Weltwirtschaftskrise auf 123.772 Personen. Eine polemische Beschreibung des meist resignativen Umgangs mit diesem Dilemma findet sich in einer 1933 erschienenen „Kinderfibel“: „Daß Miete bezahlt werden muß, ist ein ‚ewiger‘ Grundsatz im Sinne altpreußischer Auffassung [...], daß aber diese Zahlung ein schauderhaftes Loch ins Budget reißt, ist eine Nebenerscheinung, die sich aus dem ewigen Grundsatz ergibt. Die Miete ist bezahlt. Einmal, weil essich hier um eine ordentliche Familie handelt, die eher hungern würde, als den Termin der Mietzahlung zu versäumen, zum anderen aus dem weniger erhabenen Grunde, daß sie exmittiert werden würde, wenn sie nicht zahlte. So greift eins ins andere, die ‚ewigen‘ Werte und der Gerichtsvollzieher [...], die Pünktlichkeit des Zahlens und die Unterernährung [...]. Aber dafür bleibt die sittliche Befriedigung: man ist keine Vagabundenfamilie, man kann nicht exmittiert werden“.
Der fatalistischen Gemengelage aus Sekundärtugenden und drohender Obdachlosigkeit setzte eine neue Mieterbewegung kämpferische Alternativen entgegen. Schwerpunktmäßig in Berlin, insbesondere in den proletarisch geprägten Mietskasernenvierteln des Nordens und Ostens, erregten Mietstreiks Aufsehen und verhinderten Wohnungszwangsräumungen. Mit solidarischem Verhalten versuchten die Bewohnerinnen und Bewohner, ihren Lebensraum vor Ort gegen die Verfügungsgewalt von Kapital und Staatsmacht zu verteidigen.
Der Artikel ist online im Jahrbuch der Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung, September 2015 als PDF zugänglich.